02.09.21

Verfassungsstreit: Polen spielt auf Zeit

Das polnische Verfassungsgericht hat seine Entscheidung über den andauernden Konflikt zwischen europäischem und nationalem Recht erneut vertagt. Der Konflikt war eskaliert, nachdem Ministerpräsident Morawieckis das polnische Verfassungsgericht gebeten hatte, zu prüfen, ob EU-Recht gültig bleibt, wenn es gegen polnisches Verfassungsrecht verstößt.

Im Mittelpunkt des Streits stand die Einrichtung einer neuen Disziplinarkammer am Obersten Gerichtshof Polens, die von Jaroslaw Kaczynskis Rechtsberatern, den Vorsitzenden der Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS), geschaffen wurde. Nach Ansicht der liberalen Opposition wäre die Kammer ein Instrument zur Nötigung undisziplinierter Richter, da sie der Regierung die politische Kontrolle von Gerichtsentscheidungen oder den Druck auf Richter ermöglichen würde.  Im Juli 2021 gab der Europäische Gerichtshof der Opposition Recht und bestätigte sein kritisches Urteil, indem er erklärte, dass die Disziplinarkammer nicht mit dem Grundsatz der Gewaltenteilung vereinbar sei, der ein wesentlicher Bestandteil des Rechtsstaats ist. Um finanzielle Sanktionen zu vermeiden, beschloss Polen am 16. August, das Urteil des Gerichtshofs zu respektieren und die Disziplinarkammer aufzulösen, bekräftigte jedoch die Notwendigkeit eines Organs zur Bestrafung von Richtern, die gegen das Gesetz verstoßen oder ihr Amt missbrauchen. Das polnische Verfassungsgericht hätte am 3. August entscheiden sollen, ob der Gerichtshof für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit interner Maßnahmen zur Regulierung des Justizwesens zuständig ist, verschob seine Entscheidung jedoch auf den 31. August.  Die erneute Verschiebung auf den 22. September scheint die Abwarte-Taktik Polens zu bestätigen, da das Land immer noch auf die Auszahlung der Beiträge aus dem Corona-Wiederaufbaufonds wartet, die sich für Polen auf 36 Milliarden Euro belaufen, davon 24 als reine Subvention. Die Kommission hatte die Zahlungen davon abhängig gemacht, dass Polen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit einhält: Der Streit bleibt also nach allen Seiten hin offen, während in Brüssel über mögliche Sanktionen gegen Polen nachgedacht wird, falls es den Reformforderungen nicht nachkommt.

 

Andrea de Petris, cep-Experte für Verfassungsrecht