31.08.23

Keine Industriepolitik ist auch keine Lösung

Warum ist die industrielle Transformation zur Klimaneutralität eine dezidiert ordnungspolitische Aufgabe?

Das politische Dilemma der Deindustrialisierung

Das Gespenst der Deindustrialisierung geht in Deutschland um. Ganz gleich, ob man die Befürchtung für gerechtfertigt oder übertrieben hält, muss man konstatieren, dass die klima- und energiepolitische Transformation heute erkennbar an einem kritischen Punkt steht: Die Anzeichen einer Deindustrialisierung verdichten sich, Investitionen fließen bereits ins Ausland ab und Standortentscheidungen werden zunehmend gegen Deutschland und Europa getroffen. Es wird vor diesem Hintergrund derzeit heftig darüber debattiert, ob und wie gegebenenfalls die Politik eingreifen sollte. Anders als die Politik es gern verkauft, ist die industrielle Transformation zur Klimaneutralität kein selbstevidenter Prozess. Denn viele der potenziellen Pfade zu einem (indeterminierten) klimaneutralen Gleichgewicht sind instabil, weil ein – mindestens temporärer – Zielkonflikt zwischen einseitigem Klimaschutz und internationaler Wettbewerbsfähigkeit besteht: Die Deindustrialisierung setzt schneller ein, als Klimaneutralität durch den Ausbau erneuerbarer Energien und die Entwicklung grüner Technologien wettbewerbsfähig gemacht werden kann. Rein industriepolitische und marktliberale Positionen sind gleichermaßen zu simpel. Tatsächlich handelt es sich um eine originär ordnungspolitische Aufgabe, Klimaneutralität als Ordnungsprinzip in einem neuen Wettbewerbsgleichgewicht durchzusetzen. Transformative Ordnungspolitik verstößt nicht gegen die Neutralitätspostulate wirtschaftspolitischer Markteingriffe, sondern schafft erst die Voraussetzungen dafür, Klimaschutz am Markt und im Wettbewerb zu stärken.  

 

Nationalen Klimaschutz in globalen Märkten denken

Klimaschutzanstrengungen – auch zunächst einseitige – sind richtig und wesentlich, sie dürfen aber weder zum Verlust der eigenen Wettbewerbsfähigkeit noch zur bloßen Verlagerung der Emissionen ins Ausland führen. Im Gegenteil: Sie müssen als Folge der Transformation zwingend zu einem mittelfristigen Zuwachs an Wettbewerbsfähigkeit führen, um den notwendigen weltweiten Siegeszug klimaneutraler Technologien zu beschleunigen, denn nur diese Erwartung lockt letztlich dringend benötigtes privates Kapital in die Transformation. Es wäre ein Bärendienst am Klimaschutz, wenn die deutsche und europäische Industrie genau in dieser Phase ihrer globalen Wettbewerbsfähigkeit beraubt würde. Vielmehr muss die Industrie den Beweis antreten, dass Klimaschutz technologisch machbar und zugleich ökonomisch vorteilhaft ist – und zwar nicht um den Preis der Marktabschottung, sondern gerade für ein Industrieland, das im internationalen Wettbewerb steht. Nationale Klimaneutralität durch Deindustrialisierung ist möglich, aber global sinnlos. Eine klimaneutrale Industrie, die politisch gewollt einen globalen externen Effekt internalisiert, darf keinen globalen Wettbewerbsnachteil erleiden, zumal in der frühen Phase der Transformation. Stattdessen erlebt jedoch die industrielle Transformation aktuell eine gefährliche Phase der Instabilität, denn sie ist kein Sprung von einem Zustand in einen anderen, sondern ein komplexer Übergang, für den eine Brücke gebaut werden muss, damit das Neue schon trägt, während das Alte noch zurückgebaut wird.

 

Transformation in stabilen und resilienten Pfaden denken

Wenn man ein Haus baut, genügt es nicht, dass es im fertigen Zustand stabil ist. Das Haus kann nur errichtet werden, wenn es zu jedem Zeitpunkt des Bauens stabil ist. Analog dürfen Energiewende und Klimaneutralität nicht nur in einem Zielzustand, sondern müssen in jeder Phase der industriellen Transformation stabil sein, damit es nicht während des Umbaus zu einem Zusammenbruch industrieller Basisstrukturen kommt. Die Ursache für die potenzielle Instabilität liegt darin, dass die Geschwindigkeit zur Klimaneutralität geringer ist als die Geschwindigkeit industrieller Reallokation. Industrielle Agglomerationen können daher in einer Phase der Instabilität zerstört werden, noch bevor das neue stabile Gleichgewicht erreicht ist. Industrie existiert dabei in Spezialisierungen, Agglomerationen und komparativen Vorteilen. Die Transformation zur Klimaneutralität geht daher weit über den Umbau von industriellen Wertschöpfungsketten hinaus. So integriert sich eine klimaneutrale Industrie völlig neu in die Energiewirtschaft, in Rohstoff- und Beschaffungsmärkte sowie in die Transportlogistik. Transformation gelingt nur dann, wenn sie stabil und eigendynamisch ist. Denn sind andernorts Pfadstabilität und Pfaddynamik höher, werden dadurch heutige Investitionsentscheidungen in andere Standorte umgelenkt, die die Entstehung neuer globaler Wertschöpfungsketten strukturell bestimmen und insoweit einen Kipppunkt markieren: Was heute verloren geht, kommt so schnell nicht zurück. Das gilt umso mehr in einem geoökonomisch und industriepolitisch geprägten Umfeld. Der Inflation Reduction Act der USA hat die Spielregeln der industriellen und technologischen Transformation spürbar verändert – gerade mit Blick auf den Zugang zu kritischen Rohstoffen, die Resilienz von strategischen Schlüsselindustrien und die technologische Innovationsfähigkeit.

 

Ordnungspolitik transformativ denken

Klimaneutralität und Wettbewerbsfähigkeit schließen sich langfristig nicht aus. Im Gegenteil: Wettbewerbsfähig wird zukünftig nur eine Industrie sein, die klimaneutral produziert, und umgekehrt wird die Industrie nur dann nachhaltig klimaneutral sein können, wenn sie zugleich wettbewerbsfähig ist. Auf dem Weg dorthin aber besteht ein Zielkonflikt zwischen der Transformation zur Klimaneutralität und dem Erhalt der Wettbewerbsfähigkeit. Diesen strukturell und oft auch institutionell bedingten Trade-off gezielt zu überwinden, ist eine originär ordnungspolitische Aufgabe. Ist Fortschritt ein ungerichteter Prozess, kann man den Weg in die Zukunft allein dem Markt als Entdeckungsverfahren überlassen. Dafür ist aber keine Zeit. Die Industrie muss innerhalb weniger Jahre gezielt klimaneutral und die Klimaneutralität wettbewerbsfähig gemacht werden. Ordnungspolitik fordert anders als klassische Industriepolitik strenge Neutralität wirtschaftspolitischer Markteingriffe in Bezug auf das langfristige Wettbewerbsgleichgewicht. Ist der Pfad zum klimaneutralen Wettbewerbsgleichgewicht aber selbst inhärent instabil, leitet sich aus der Ordnungspolitik ein Neutralitätspostulat für die Transformation ab: Das zukünftige Gleichgewicht sollte nicht davon abhängen, auf welchem Pfad es erreicht wird. Gefordert ist daher keine klassische Industriepolitik, sondern ein stabiler Ordnungsrahmen, der für die industrielle Transformation zur Klimaneutralität entsprechende ökonomische Anreize am Markt setzt und verlässliche Erwartungen im Wettbewerb schafft. Denn das Lehrbuchideal einer friktionslosen Welt ist für disruptive und instabile Transformationsprozesse irreführend. Damit eine solche Brücke in die Klimaneutralität aber nicht zu Fehlallokation führt, muss sie von vornherein zeitlich begrenzt und an Konditionen – allen voran an Investitionen in grüne Technologien und den Ausbau erneuerbarer Energien, also an tatsächlicher Transformation – geknüpft sein. Denn sonst drohen in der Tat Dauersubventionierung und sich weiterdrehende Interventionsspiralen.