06.10.20

EuGH urteilt zu Vorratsdatenspeicherung

Der EuGH erlaubt Vorratsdatenspeicherung unter engen Voraussetzungen

Der EuGH hat am 6. Oktober 2020 in zwei Urteilen das grundsätzliche Verbot der Vorratsdatenspeicherung bestätigt, will aber Ausnahmen unter engen Voraussetzungen erlauben.

Unter Vorratsdatenspeicherung ist die gesetzliche Verpflichtung privater Telekommunikationsdienstleister (nachfolgend: Provider) zu verstehen, Telekommunikations- und Internetverbindungsdaten ihrer Nutzer für einen längeren Zeitraum zu speichern, damit Strafverfolgungsbehörden ggf. auf diese zugreifen können.

Dass Vorratsdatenspeicherung nur unter engen Voraussetzungen zulässig sein kann, hatte der EuGH bereits entschieden. In den aktuellen Urteilen präzisiert der EuGH nun genauer, welchen Anforderungen solche Ausnahmeregelungen genügen müssen, um einen angemessenen Ausgleich zwischen dem Schutz der Grundrechte der Nutzer von Telekommunikationsdiensten und nationalen Sicherheitsinteressen zu gewährleisten.

Im Einzelnen urteilt der EuGH wie folgt:

Grundsatz: Die E-Privacy-Richtlinie (2002/58/EG) verbietet die Vorratsdatenspeicherung

•    Die Richtlinie ist anwendbar, da es vorliegend um Pflichten von Providern und nicht um vom   Anwendungsbereich ausgenommene Tätigkeiten des Staates geht.

•    Die Richtlinie verbietet neben der allgemeinen Vorratsdatenspeicherung auch die Weitergabe solcher Daten an Geheimdienste. Beides sind besonders schwere Eingriffe in die Grundrechte unbescholtener Nutzer auf Privatsphäre und Vertraulichkeit der Kommunikation.

Ausnahmen:

1.    Eine Verpflichtung der Provider zur allgemeinen und unterschiedslosen Speicherung von Kommunikationsdaten ist zulässig, wenn

•    die nationale Sicherheit in einem Mitgliedstaat im konkreten Fall ernsthaft bedroht oder eine solche Bedrohung vorhersehbar ist,

•    die Speicherdauer auf das absolut Notwendige begrenzt wird, bei Fortbestehen der Gefahr aber verlängerbar sein darf, und

•    die Anordnung der Verpflichtung nachträglich durch ein Gericht oder eine unabhängige Verwaltungsbehörde effektiv überprüft werden kann.

2.    Eine Verpflichtung der Provider zur gezielten Speicherung von Verkehrs- und Standortdaten ist zulässig, wenn

•    sie der Aufrechterhaltung der nationalen Sicherheit, dem Kampf gegen schwere Kriminalität oder der Abwendung schwerer Bedrohungen der öffentlichen Sicherheit dient,

•    auf der Basis objektiver und nicht diskriminierender Faktoren erfolgt, z.B. auf bestimmte Gruppen von betroffenen Personen beschränkt oder durch ein geografisches Kriterium begrenzt ist, und

•    die Speicherdauer auf das absolut Notwendige begrenzt wird, bei Fortbestehen der Gefahr aber verlängerbar sein darf.

3.    Ebenfalls zulässig sein kann unter bestimmten, vom EuGH näher spezifizierten Voraussetzungen

•    die Erhebung von Echtzeitdaten von Personen, gegen die ein begründeter Verdacht einer  Beteiligung an Terrorangriffen besteht,

•    die Speicherung von IP-Adressen und bürgerlichen Identitäten,

•    die automatische Analyse von Daten sowie

•    Eilanordnungen von Vorratsdatenspeicherungen.

4.    Die Mitgliedstaaten müssen durch klare und präzise Regelungen sicherstellen, dass die Speicherung den genannten Bedingungen unterliegt und die Betroffenen effektive Garantien gegen Missbrauch haben.

Der Gerichtshof äußerte sich auch zur Verwendung von Vorratsdaten als Beweismittel. Derzeit sei es Sache des nationalen Rechts, die Zulässigkeit von Beweismitteln in Strafverfahren zu regeln. Nationale Strafgerichte seien aber verpflichtet, Beweismittel, die durch EU-rechtswidrige Vorratsdatenspeicherung erlangt worden seien, bei ihrer Entscheidung unberücksichtigt zu lassen, wenn die Betroffenen sich zu diesen Beweismitteln nicht effektiv äußern könnten.

Die Urteile sind auch für Deutschland von Bedeutung, wo die Vorratsdatenspeicherung aktuell im Kampf gegen Kindesmissbrauch erneut debattiert wird. Das deutsche Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung von Verkehrsdaten wurde 2017 nach einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen faktisch ausgesetzt, dessen Regelungen sind noch Gegenstand eines eigenen, derzeit noch laufenden Verfahrens vor dem EuGH.

Hintergrund:

Der EuGH hatte bereits in den Jahren 2014 und 2016 entschieden, dass eine allgemeine und anlasslose Speicherung von Daten unverhältnismäßig und daher EU-rechtswidrig ist, und hatte die Vorratsdatenspeicherung an strenge Voraussetzungen geknüpft (Rs. C-293/12 und C-594/12, Digital Rights Ireland und Rs. C-302/15 und C-698/15, Tele2 Sverige).

Um ihren nationalen Sicherheitsinteressen gerecht zu werden, hatten dennoch verschiedene Mitgliedstaaten die auf ihrem Gebiet tätigen Anbieter von Kommunikationsdiensten gesetzlich verpflichtet, Kommunikationsdaten, insbesondere Verkehrs- und Standortdaten, allgemein und anlasslos zu speichern oder an Behörden weiterzuleiten. In den aktuellen Verfahren (C-623/17 Privacy International sowie den verbundenen Verfahren C-511/18 La Quadrature du Net, C-512/18 French Data Network und C-520/18 Ordre des barreaux francophones et germanophone) ging es daher erneut um Fragen des Ausgleichs zwischen der aus staatlicher Sicht notwendigen Massenüberwachung zum Schutz nationaler Sicherheitsinteressen und den damit verbundenen Grundrechtseinschränkungen für Nutzer von Telekommunikationsdiensten.

Zur Pressemeldung des EuGH: curia.europa.eu/jcms/jcms/p1_3244865/de/