19.11.21

EU-Generalanwalt: Anlasslose Vorratsdatenspeicherung auch zur Bekämpfung schwerer Straftaten unzulässig

Eine anlasslose Vorratsdatenspeicherung ist nur bei einer ernsthaften Bedrohung der nationalen Sicherheit erlaubt. Das hat Generalanwalt Campos Sánchez-Bordona in seinen Schlussanträgen vom 18.11.21 bestätigt. Eine solche Bedrohung kann vorliegen, wenn sich terroristische Aktivitäten gegen wesentliche Funktionen des Staates oder grundlegende Interessen der Gesellschaft richten. Unter Vorratsdatenspeicherung versteht man die Verpflichtung von Internetprovidern und Telefonanbietern, Nutzerdaten wie Rufnummer, Zeit und Standort eines Telefonats vorübergehend zu speichern. Zweck dieser Speicherung ist es, diese Daten für den Zugriff durch Strafverfolgungsbehörden aufzubewahren.

Die "anlasslose" Vorratsdatenspeicherung ist von der "gezielten" Vorratsdatenspeicherung zu unterscheiden. Anlasslos ist die Speicherung, wenn sie "allgemein und unterschiedslos" erfolgt, d.h. wenn die Daten sämtlicher Nutzer pauschal und ohne Begrenzung gespeichert und damit auch Daten solcher Personen erfasst werden, deren Verhalten keinerlei Anlass für eine solche Speicherung gibt. Dagegen ist die Speicherung gezielt, wenn sie auf der Basis objektiver Fak-toren erfolgt, z.B. auf bestimmte Personengruppen oder geographische Bereiche begrenzt ist.

Der EuGH hatte am 6. Oktober 2020 in den Fällen "La Quadrature du Net" und "Privacy International" geurteilt, dass die anlasslose Vorratsdatenspeicherung grundsätzlich verboten ist, und damit seine frühere Rechtsprechung bestätigt (näher dazu cepAktuell vom 6.10.2020). Eine Ausnahme erkannte der EuGH aber an: Die anlasslose Vorratsdatenspeicherung kann bei ernsthafter Bedrohung der nationalen Sicherheit in sehr engen Grenzen erlaubt sein. Die gezielte Vorratsdatenspeicherung hatte der EuGH dagegen unter weniger engen Voraussetzungen für zulässig erachtet.

Hintergrund des hiesigen Verfahrens vor dem EuGH sind neben einem französischen und einem spanischen Fall auch zwei Vorlagen des deutschen Bundesverwaltungsgerichts. In den zugrundeliegenden Verfahren hatten der Internetprovider SpaceNet AG und die Telekom Deutschland GmbH (verbundene Verfahren C-793/19 und C-794/19) auf Feststellung geklagt, dass sie zur Vorratsdatenspeicherung nicht verpflichtet seien. Zwar sähen die geänderten Vorschriften des deutschen Telekommunikationsgesetzes (TKG) solche Pflichten vor, diese verstießen aber gegen EU-Grundrechte.

Nach Auffassung des Generalanwalts verpflichten die genannten Vorschriften des TKG die Provider zu einer anlasslosen Speicherung, die sich auf eine große Vielzahl von Verkehrs- und Standortdaten erstreckt. Deren Speicherung stelle einen schwerwiegenden Eingriff in die Grundrechte auf Familien- und Privatleben sowie den Schutz personenbezogener Daten dar. Denn aus den gespeicherten Daten könnten sehr genaue Schlüsse auf das Privatleben der jeweiligen Person gezogen und ggf. umfassende Persönlichkeitsprofile gebildet werden. Daran ändere auch die zeitliche Begrenzung der Speicherung alleine nichts. Aufgrund der schweren Gefahren, die mit dieser allgemeinen Speicherung der Daten verbunden seien, könne die vorgesehene Speicherung nur bei Bedrohungen der nationalen Sicherheit gerechtfertigt sein.

Ein solcher Fall ist aber vorliegend nicht gegeben, weil die geänderten TKG-Vorschriften Lücken bei der Strafverfolgung und bei der Gefahrenabwehr schließen sollen. Die nationale Sicherheit schließt jedoch die Verfolgung selbst schwerer Straftaten nicht ein. Der Generalanwalt geht daher davon aus, dass vorliegend nur eine gezielte bzw. selektive Vorratsdatenspeicherung gerechtfertigt sein könnte. Angesichts der großen Ähnlichkeit der Sachlage zu derjenigen im vom EuGH entschiedenen Fall "La Quadrature du Net" hält er eine Abweichung von der dortigen Beurteilung des EuGH für nicht angebracht.

Der Generalanwalt bleibt damit auf der engen Linie der bisherigen Rechtsprechung des EuGH. Ob der EuGH dem folgt, ist insbesondere in Deutschland von Bedeutung, wo die Vorratsdatenspeicherung in ihrer geänderten Form durch die Bundesnetzagentur im Jahr 2017 noch vor ihrem Inkrafttreten faktisch ausgesetzt wurde und daher bis heute nicht angewendet worden ist. Denn die massenhafte Speicherung von Kommunikationsdaten ist innerhalb der Ampelkoalition umstritten.

Die Schlussanträge sind für den Gerichtshof nicht bindend; laut cep-Expertin Hoffmann wird der EuGH in seinem Urteil aber aller Voraussicht nach der Argumentation des Generalanwalts folgen. Sie hält es angesichts der klaren Linie des EuGH in der Vergangenheit nicht für wahrscheinlich, dass die Abwägung des EuGH im vorliegenden Fall zugunsten der "nachgebesserten" deutschen Vorratsdatenspeicherung ausfallen wird. Die ausgesetzten Regelungen des TKG wären damit unanwendbar.