07.12.22

Bundesverfassungsgericht segnet milliardenschweres EU-Wiederaufbauinstrument zur Bewältigung der Coronakrise ab

Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat am 6. Dezember 2022 die Zustimmung Deutschlands zum neuen EU-Eigenmittelbeschluss 2020 abgesegnet und damit im Ergebnis gebilligt, dass die EU-Kommission Schulden im Umfang von bis zu 750 Milliarden Euro (in Preisen von 2018) aufnehmen darf, um das milliardenschwere EU-Wiederaufbauinstrument zur Bewältigung der Coronakrise zu finanzieren.

Gegenstand des Urteils war die Frage einer Rechtsverletzung deutscher Bürger durch den aktuellen EU-Eigenmittelbeschluss, der die Grundlage für die Finanzierung der Schuldenaufnahme durch die EU bildet. Die EU hatte diesen Beschluss im Jahr 2020 eigens angepasst, um die umstrittene Begebung von Anleihen durch die Kommission zu ermöglichen. Damit dieser Beschluss wirksam werden konnte, musste er von Deutschland und den übrigen EU-Mitgliedstaaten ratifiziert werden. Die deutsche Zustimmung erfolgte mit dem Eigenmittelbeschluss-Ratifizierungsgesetz, das im Jahr 2021 vom Deutschen Bundestag und Bundesrat erlassen wurde. Gegen dieses Gesetz waren mehrere Verfassungsbeschwerden erhoben worden, von denen eine durch knapp 2300 Bürger unterstützt wurde. Das BVerfG hat diese Beschwerden nun zurückgewiesen, weil das Ratifizierungsgesetz die Beschwerdeführer nicht in ihrem Recht auf demokratische Selbstbestimmung aus Art. 38 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 und Art. 79 Abs. 3 des Grundgesetzes (GG) verletze. Die Entscheidung erging mit 6 zu 1 Stimmen. Der überstimmte Richter Müller tat seine abweichende Sichtweise in einem Sondervotum zum Urteil kund.

Das BVerfG ist der Ansicht, dass die Verankerung der Kreditaufnahmebefugnis der Kommission im Eigenmittelbeschluss 2020 die Kompetenzgrundlagen im EU-Primärrecht nicht überschreitet – jedenfalls „nicht offensichtlich“. Der geänderte Eigenmittelbeschluss beeinträchtige auch nicht die haushaltspolitische Gesamtverantwortung des Deutschen Bundestags und schränke dessen Gestaltungsmacht damit nicht substanziell ein.

In unserem cepAdhoc Nr. 7/2020 „Next Generation EU“ hatten wir uns kritisch mit der Frage auseinandergesetzt, ob das Wiederaufbauinstrument und die zu dessen Umsetzung geplante Schuldenaufnahme der EU mit dem EU-Recht vereinbar ist.

Bedauerlich ist, dass das BVerfG nun sein Urteil gefällt hat, ohne sich mit den kritischen Punkten im Einzelnen zu befassen. Obwohl das BVerfG beispielsweise selbst daran zweifelt, dass die Schuldenaufnahme auf die Art. 122 Abs. 1 und 2 AEUV gestützt werden kann, bzw. dass dessen Voraussetzungen erfüllt sind, lässt das Gericht es ausreichen, dass es an einem „offensichtlichen“ Kompetenzverstoß fehlt, und stützt seine Entscheidung wesentlich auf dieses Argument.

Auch wenn es nach der vorangegangenen Rechtsprechung des BVerfG einer hinreichend qualifizierten, offensichtlichen Kompetenzüberschreitung bedarf, macht es das BVerfG sich hier sehr einfach. Zum einen wird in der Entscheidung nicht deutlich, warum die Annahme, die Voraussetzungen des Art. 122 AEUV seien erfüllt, trotz der vom BVerfG selbst aufgeführten ernsthaften Bedenken „im Ergebnis vertretbar“ sein soll. Offen bleibt in diesem Zusammenhang etwa auch, ob es sich trotz des Umfangs und der langen Laufzeit um ein hinreichend begrenztes und befristetes Instrument handelt. Zum anderen ermöglicht das bloße Abstellen auf die fehlende Offensichtlichkeit eines Verstoßes im Ergebnis eine Vielzahl von Kompetenzüberdehnungen der EU-Organe, die letztlich vom BVerfG nicht beanstandet werden können, solange es noch irgendeine nach Ansicht des BVerfG „im Ergebnis vertretbare Meinung“ zugunsten der Kompetenzausübung bzw. eine alternative Bewertungsmöglichkeit gibt. Dies dürfte angesichts der Unklarheiten, wie die bestehenden Kompetenzgrundlagen in den EU-Verträgen auf derartige Instrumente angewendet werden können, allerdings in den allermeisten Situationen der Fall sein.

Unter anderem geht das BVerfG davon aus, die Mittel würden für eine der EU zugewiesenen Einzelermächtigung verwendet und seien strikt zweckgebunden, da sie nur zur Bewältigung der Folgen der Corona-Krise verwendet werden dürften. Dies ist allerdings gerade fraglich, da das Aufbauinstrument tatsächlich über diesen selbst gesteckten Rahmen hinausgeht. Mit dem Aufbauinstrument sollen nicht nur durch die Pandemie verursachte Schäden beseitigt, sondern auch weitere Ziele verfolgt werden, die nicht in unmittelbarem Zusammenhang der COVID-19-Pandemie stehen. Dazu gehört etwa das Ziel, „die Prioritäten der Union im Hinblick auf den ökologischen und digitalen Wandel voranzutreiben“ bzw. die Mitgliedstaaten „beim Übergang zu einer grünen und digitalen Wirtschaft“ zu unterstützen.

Hinzu kommt, dass das EU-Wiederaufbauinstrument eine grundlegende Neuausrichtung der Finanzarchitektur begründet. So werden die Kredite, die die EU zur Finanzierung des Instruments aufnimmt, nicht nur als Kredite an die Mitgliedstaaten weiterverteilt, sondern zu großen Teilen auch als Zuschüsse, die die Mitgliedstaaten nicht direkt zurückzahlen müssen. Dies ist ein wesentlicher Unterschied zu den Finanzhilfen, die einzelnen Mitgliedstaaten im Zuge der Eurokrise gewährt wurden, insbesondere dem Europäischen Finanzstabilisierungsmechanismus (EFSM). Denn damals wurden die Hilfen nicht als Zuschüsse, sondern ausschließlich als Kredite an bedürftige Mitgliedstaaten weitergereicht. Das EU-Wiederaufbauinstrument hat daher zahlreiche Eigenschaften des regulären EU-Haushalts.   

Angesichts der grundlegenden Bedeutung dieser Fragen und der Tatsache, dass die EU-Verträge grundsätzlich ein allgemeines Verschuldungsverbot vorsehen, hätte das cep sich eine genauere Auseinandersetzung des BVerfG mit den kritischen Punkten gewünscht.

Dr. Anja Hoffmann, Wissenschaftliche Referentin & Dr. Matthias Kullas, Fachbereichsleiter