20.09.22

EuGH kippt deutsche Regelung zur Vorratsdatenspeicherung

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat die deutschen Regelungen zur Vorratsdatenspeicherung gekippt und damit seine bisherige Rechtsprechung bestätigt. Internetprovider und Telekommunikationsanbieter in Deutschland müssen Kundendaten wie Rufnummern, Zeit und Standort eines Telefonats und IP-Adressen damit auch künftig bis auf weiteres nicht vorübergehend speichern. Die entgegenstehende Regelung des deutschen Telekommunikationsgesetzes (TKG), die den Unternehmen genau das eigentlich  vorschreibt, ist europarechtswidrig.

Die Vorratsdatenspeicherung ist in der EU und auch in Deutschland seit Jahren stark umstritten. Sie zielt darauf ab, insbesondere Verkehrs- und Standortdaten für einen begrenzten Zeitraum „auf Vorrat“ zu speichern und so für den Zugriff durch Strafverfolgungsbehörden aufzubewahren. Auf diese Weise sollen Verbrechen wie Terrorismus, organisierte Kriminalität und Kinderpornographie wirksam bekämpft werden können. Während Strafverfolgungsbehörden auf entsprechende Befugnisse zum Zugriff auf gespeicherte Verkehrs- und Standortdaten zur Verbrechensbekämpfung drängen, stellt die Vorratsdatenspeicherung aus Sicht der Gegner einen tiefen Eingriff in die in Art. 7 und 8 der EU-Grundrechtecharta verankerten Grundrechte auf Privatsphäre und Vertraulichkeit der Kommunikation sowie auf den Schutz personenbezogener Daten dar. Aus diesem Grund wurde die betreffende Regelung des TKG nach einer Entscheidung des OVG Münster im Jahr 2017 von der Bundesnetzagentur wegen Zweifeln an ihrer EU-Rechts-Konformität noch vor ihrem Inkrafttreten ausgesetzt und so bis heute nicht angewendet. Dabei wird es nun bleiben. Denn nunmehr ist klar: auch die „nachgebesserten“ deutschen Regelungen zur Vorratsdatenspeicherung verstoßen gegen EU-Recht und insbesondere gegen die EU-Grundrechtecharta.

 

Schwerer Grundrechtseingriff

Laut dem EuGH stellt die im TKG vorgesehene Speicherung von Verkehrs- und Standortdaten in einer derartigen Menge und Vielfalt einen schweren Grundrechtseingriff dar. Denn sie ermögliche es, sehr genaue Schlüsse auf das Privatleben der betroffenen Personen zu ziehen, etwa auf ihre täglichen Gewohnheiten, Aufenthaltsorte, Tätigkeiten sowie auf ihre soziale Beziehungen und ihr soziales Umfeld, und ermöglichen insbesondere die Erstellung eines Profils dieser Personen. Ein solches Profil sei aber eine sensible Information wie ein (laut TKG nicht zu speichernder) Kommunikationsinhalt. Der Gerichtshof bemängelte zudem, dass dabei auch Daten von Nutzern gespeichert würden, die dem Berufsgeheimnis unterliegen, wie beispielsweise Rechtsanwälte, Ärzte und Journalisten. Zudem könne die Vorratsdatenspeicherung Nutzer von der Ausübung ihrer durch Art. 11 der EU-Grundrechtecharta gewährleisteten Freiheit der Meinungsäußerung abhalten, so dass auch diese Freiheit berührt sei.  

Gleiches gilt laut EuGH für die Speicherung der IP-Adressen. Diese ermögliche die Nachverfolgung der Online-Aktivität der Internetnutzer und so die Erstellung detaillierter Nutzerprofile. Auch die Vorratsspeicherung und Analyse der IP Adressen stellen daher schwere Eingriffe in die Grundrechte der Internetnutzer dar.

Die Beschränkungen des TKG reichten dem EuGH nicht aus, um einen schweren Eingriff zu verneinen. Insbesondere hielt er es nicht für ausschlaggebend, dass nach dem TKG im Vergleich zu den in seiner früheren Rechtsprechung kritisierten nationalen Regelungen

  • weniger Daten gespeichert würden,
  • die Speicherfrist kürzer sei,
  • die gespeicherten Daten gegen Missbrauch und unberechtigten Zugang geschützt würden,
  • keine Kommunikationsinhalte gespeichert würden.

 

Anlasslose vs. gezielte Vorratsdatenspeicherung

Die "anlasslose" Vorratsdatenspeicherung ist von der "gezielten" Vorratsdatenspeicherung zu unterscheiden. Anlasslos ist die Speicherung, wenn sie "allgemein und unterschiedslos" erfolgt, d.h. wenn pauschal die Daten sämtlicher Nutzer ohne Begrenzung gespeichert und damit auch Daten solcher Personen erfasst werden, deren Verhalten keinerlei Anlass für eine solche Speicherung gibt. Dagegen ist die Speicherung gezielt, wenn sie auf der Basis objektiver Faktoren erfolgt, z.B. auf bestimmte Personengruppen oder geographische Bereiche wie Bahnhöfe oder Flughäfen begrenzt ist.

 

TKG schreibt keine gezielte, sondern eine anlasslose Vorratsdatenspeicherung vor

Nach Auffassung des EuGH handelt es sich bei der im TKG vorgeschriebenen Speicherung nicht um eine gezielte, sondern um eine anlasslose Vorratsdatenspeicherung. Die Provider müssten einen umfangreichen Satz von Verkehrs- und Standortdaten nahezu der gesamten Bevölkerung speichern, ohne dass diese auch nur mittelbar Anlass zur Strafverfolgung gäben. Die Regelungen des TKG unterschieden sich damit nicht wesentlich von den anderen nationalen Vorschriften, die der EuGH in seiner bisherigen Rechtsprechung bereits verworfen habe.

 

Anlasslose Vorratsdatenspeicherung nur bei Bedrohung der nationalen Sicherheit erlaubt

Der EuGH, der bereits im Jahr 2014 die EU-Richtlinie 2006/24/EG über die Vorratsdatenspeicherung für ungültig erklärt und auch danach mehrfach zur Vorratsdatenspeicherung geurteilt hatte, hat in seiner aktuellen Entscheidung erneut bestätigt, dass eine anlasslose Vorratsdatenspeicherung nur unter sehr engen Voraussetzungen, nämlich im Falle einer ernsthaften Bedrohung der nationalen Sicherheit, gerechtfertigt und damit zulässig sein kann.

Nach der geltenden Datenschutzrichtlinie (2002/58/EG) für elektronische Kommunikation ist die Vorratsspeicherung von Verkehrs- und Standortdaten grundsätzlich verboten. Die Nutzer elektronischer Kommunikationsmittel dürfen erwarten, dass ihre Nachrichten und die damit verbundenen Verkehrsdaten anonym bleiben und nicht gespeichert werden dürfen, es sei denn, sie haben darin eingewilligt. Die Mitgliedstaaten dürfen die vorübergehende Speicherung dieser Daten aber unter bestimmten Voraussetzungen u.a. zum Schutz der nationalen Sicherheit, der öffentlichen Sicherheit und der Verhütung oder Verfolgung von Straftaten ausnahmsweise erlauben. Insoweit dürfen sie die Grundrechte der Nutzer einschränken. Diese Beschränkungen müssen aber verhältnismäßig sein.

Regelungen zur anlasslosen Vorratsdatenspeicherung können nach Auffassung des EuGH allenfalls bei einer ernsthaften Bedrohung der nationalen Sicherheit verhältnismäßig sein. In diesem Fall kann unter bestimmten Umständen auch eine allgemeine und unterschiedslose Speicherung von Verkehrs- und Standortdaten zulässig sein.

Darüber hinaus können zum Schutz der nationalen Sicherheit, zur Bekämpfung schwerer Kriminalität oder zur Verhütung schwerer Bedrohungen der öffentlichen Sicherheit nur

  • eine gezielte Vorratsdatenspeicherung bestimmter Verkehrs- und Standortdaten für einen auf das absolut Notwendige begrenzten Zeitraum;
  • eine anlasslose Speicherung von IP-Adressen, die der Quelle einer Verbindung zugewiesen sind, für einen auf das absolut Notwendige begrenzten Zeitraum;
  • eine anlasslose Speicherung der die Identität der Nutzer elektronischer Kommunikationsmittel betreffenden Daten sowie
  • Regelungen zulässig sein, nach denen Behörden Anbietern elektronischer Kommunikationsdienste anordnen können, während eines festgelegten Zeitraums Verkehrs- und Standortdaten umgehend zu sichern (sogenanntes quick freeze), wenn diese Anordnungen einer gerichtlichen Kontrolle unterliegen.

Nationale Sicherheit vs. öffentliche Sicherheit

Eine Bedrohung der nationalen Sicherheit kann z.B. vorliegen, wenn sich terroristische Aktivitäten gegen wesentliche Funktionen des Staates oder grundlegende Interessen der Gesellschaft richten. Die nationale Sicherheit betrifft somit die Sicherheit des Staates als solche. Eine Bedrohung der nationalen Sicherheit ist laut EuGH deutlich schwerwiegender als die allgemeine und ständige Gefahr, dass schwere Spannungen oder Störungen der öffentlichen Sicherheit oder schwere Straftaten auftreten. Der Gerichtshof bestätigte, dass auch besonders schwere Kriminalität nicht mit einer Bedrohung der nationalen Sicherheit gleichgesetzt werden kann. Auch das Ziel der Bekämpfung schwerer Kriminalität, so grundlegend es auch sein möge, könne daher eine anlasslose Vorratsspeicherung von Verkehrs- und Standortdaten nicht rechtfertigen.

Cep-Stellungnahme:

Die Entscheidung des EuGH kommt nicht überraschend. Angesichts der klaren Linie des EuGH in der Vergangenheit war es zu erwarten, dass der EuGH die Grundrechtswidrigkeit der bereits ausgesetzten Regelungen des deutschen TKG zur Vorratsdatenspeicherung bestätigt. Mit dem Urteil sind aber nicht jegliche Regelungen zur Vorratsdatenspeicherung vom Tisch. Denn der EuGH erlaubt u.a. ausdrücklich eine nationale Regelung, nach der Strafverfolgungsbehörden Anbieter von Telekommunikationsdiensten aufgeben dürfen, Verkehrs- und Standortdaten umgehend für die Dauer eines festgelegten Zeitraums zu sichern („sogenanntes „Quick Freeze“). Voraussetzung hierfür ist, dass damit schwere Kriminalität bekämpft oder schwere Bedrohungen der öffentlichen Sicherheit verhindert werden und die Behörde einer wirksamen gerichtlichen Kontrolle unterliegt. Das TKG muss nun geändert werden. Wie dies genau geschehen soll, wird nun in den kommenden Wochen und Monaten intensiv diskutiert werden. Denn die massenhafte Speicherung von Kommunikationsdaten ist innerhalb der Ampelkoalition umstritten. Im Koalitionsvertrag hatte die Bundesregierung angekündigt, die Vorratsdatenspeicherung anlassbezogen ausgestalten und an einen Gerichtsbeschluss knüpfen zu wollen. FDP und Grüne haben bereits verlautbaren lassen, einen Vorschlag für eine Quick-Freeze-Regelung unterbreiten zu wollen; Bundesinnenministerin Faeser will dagegen offenbar weiter auf die vom EuGH erlaubte anlasslose Speicherung von IP-Adressen setzen. Eine „Quick Freeze“-Regelung kann einen Kompromiss für eine effektive und zugleich grundrechtsschonende Strafverfolgung darstellen. In jedem Fall sollte der Gesetzgeber etwaige neue Regelungen zur Vorratsdatenspeicherung – wie im Koalitionsvertrag angekündigt - nunmehr rechtssicher ausgestalten.

Hintergrund

Unter Vorratsdatenspeicherung versteht man die Verpflichtung von Internetprovidern und Telefonanbietern, Nutzerdaten wie Rufnummer, Zeit und Standort eines Telefonats vorübergehend zu speichern. Zweck dieser Speicherung ist es, diese Daten für den Zugriff durch Strafverfolgungsbehörden aufzubewahren.

Hintergrund des Verfahrens vor dem EuGH (verbundene Verfahren C-793/19 und C-794/19) waren zwei Vorlagen des deutschen Bundesverwaltungsgerichts. In den zugrundeliegenden Verfahren hatten der Internetprovider SpaceNet AG und die Telekom Deutschland GmbH  auf Feststellung geklagt, dass sie aufgrund der Europarechtswidrigkeit der TKG-Regelungen nicht zur Vorratsdatenspeicherung nicht verpflichtet seien.

Mit seiner dies bestätigenden Entscheidung bestätigte der EuGH die Auffassung des Generalanwalts Campos Sánchez-Bordona. Dieser hatte im November 2021 ausgeführt, dass die gesetzlich vorgesehene allgemeine Speicherung der Daten aufgrund der damit verbundenen schweren Gefahren, nur bei einer Bedrohung der nationalen Sicherheit gerechtfertigt sein könne; ein solcher Fall sei aber vorliegend nicht gegeben (vgl. cepAktuell).

Der EuGH hatte bereits in den Jahren 2014 und 2016 entschieden, dass eine allgemeine und anlasslose Speicherung von Daten unverhältnismäßig und daher EU-rechtswidrig ist, und hatte die Vorratsdatenspeicherung an strenge Voraussetzungen geknüpft (Rs. C-293/12 und C-594/12, Digital Rights Ireland und Rs. C-302/15 und C-698/15, Tele2 Sverige). Diese Rechtsprechung hat er am 6. Oktober 2020 in den Fällen "Privacy International" und "La Quadrature du Net" (Rs. C-623/17 sowie verbundene Verfahren C-511/18, C-512/18 und C-520/18, s. cepAktuell) sowie am 5. April 2022 in der Rs. Commissioner of An Garda Síochána (C 140/20) bestätigt und klargestellt, dass eine anlasslose Vorratsdatenspeicherung nur bei ernsthafter Bedrohung der nationalen Sicherheit in sehr engen Grenzen erlaubt sein kann. Die gezielte Vorratsdatenspeicherung hatte der EuGH dagegen unter weniger engen Voraussetzungen für zulässig erachtet.

Dr. Anja Hoffmann, LL.M. Eur.

Wissenschaftliche Referentin für Binnenmarkt und Wettbewerb sowie Informationstechnologien