07.03.24

Zeitenwende sorgt für Absage der Kommission an die Einführung einer sozialen Taxonomie

In der EU wurden in den vergangenen Jahren unter dem Schlagwort „Sustainable Finance“ einige wichtige und Regulierungsvorhaben beschlossen. Dazu zählt insbesondere auch die im Juli 2020 in Kraft getretene EU-Taxonomieverordnung [(EU) 2020/852, s. cepAdhoc]. Die Verordnung legt insbesondere fest, anhand welcher Kriterien bestimmt wird, ob eine Wirtschaftstätigkeit als „ökologisch nachhaltig“ einzustufen ist („grüne Taxonomie“).

 

Artikel 26 der grünen Taxonomie verpflichtet die Kommission einen Bericht dazu vorzulegen, ob der Anwendungsbereich der Verordnung neben ökologisch nachhaltigen Tätigkeiten auch andere Nachhaltigkeitsziele, z.B. soziale Ziele, umfassen sollte. Auch wenn dies nicht mit einer Pflicht für die Kommission verstanden werden kann, nach Vorlage des Berichts auch tatsächlich eine „soziale Taxonomie“ vorlegen zu müssen, war die allgemeine Erwartung doch, dass dies als nächster Schritt auf die Einführung der grünen Taxonomie folgen würde. So legte die EU-Plattform für ein nachhaltiges Finanzwesen, ein Beratungsgremium der EU-Kommission, Ende Februar 2022 einen dezidierten Bericht mit Ideen für die Entwicklung einer „sozialen Taxonomie“ vor [s. cepDossier]. Ziel einer solchen sozialen Taxonomie wäre es, die grüne Taxonomie um soziale sowie die Governance betreffende Gesichtspunkte im Sinne eines breiten ESG-Ansatzes zu ergänzen und so der europäischen Sustainable Finance-Architektur einen weiteren Baustein hinzuzufügen. Damit sollte Kapital letztlich nicht nur in grüne Wirtschaftstätigkeiten, sondern auch in sozial wünschenswerte Aktivitäten gelenkt werden.

Auch wenn sich in den vergangenen Monaten bereits abzeichnete, dass die Kommission mit der Einführung einer sozialen Taxonomie zögert, kommt nun im Rahmen der Vorstellung der EU-Strategie für die Verteidigungsindustrie, nahezu unbemerkt, die abrupte Absage. Und das hat wohl handfeste Gründe. Denn bei der Implementierung einer sozialen Taxonomie hätte sich die Kommission wohl explizit mit der Frage auseinandersetzen müssen, ob Investitionen in die Rüstungsindustrie oder die Produktion von Waffen als „sozial schädlich“ oder „sozial erwünscht“ gelten sollen. Das oben genannte Beratungsgremium hatte sich in seinem Bericht noch für den ersteren Ansatz ausgesprochen. Nun machen sich auch hier die Folgen des Kriegs in der Ukraine bemerkbar. Indem die Kommission nun einer sozialen Taxonomie eine Absage erteilt, muss sie sich hier erstens nicht rechtsverbindlich positionieren und zweitens verhindert sie, dass eine solche Taxonomie Investitionen in die Verteidigungsindustrie möglicherweise erschwert hätte. Im Gegenteil: Sie versucht solche Investitionen nun sogar verstärkt anzuregen, in dem sie – zwar rechtlich unverbindlich, aber dennoch explizit – klar macht, dass

  • die EU-Verteidigungsindustrie einen entscheidenden Beitrag zur „sozialen Nachhaltigkeit“ leistet, da sie zur Widerstandsfähigkeit, zur Sicherheit und zum Frieden in der EU beiträgt,
  • die im Rahmen der grünen Taxonomie festgelegten Kriterien für umweltfreundliche Wirtschaftstätigkeiten („Umwelttaxonomie“), den Zugang der Verteidigungsindustrie zu finanziellen Mitteln nicht beeinträchtigen, und
  • die bestehenden EU-Regularien zu „Sustainable Finance“ Investitionen in die EU-Verteidigungsindustrie nicht im Wege stehen.

Die verteidigungspolitische Zeitenwende der vergangenen zwei Jahre hat nun also auch zu einer nicht zu unterschätzenden Wende in der Diskussion rund um „Sustainable Finance“ geführt. Sie zeigt einmal mehr die mangelnde Zeitkonsistenz von hoheitlich vorgegebenen Nachhaltigkeitsparadigmen auf. Solche Paradigmen unterliegen ständigem Wandel. Was gestern als nachhaltig galt, kann schon morgen als nicht erwünscht gelten und andersherum. Dass die Kommission nun Abstand von einer sozialen Taxonomie nimmt, ist daher richtig. Denn so wie schon bei grünen wirtschaftlichen Tätigkeiten gibt es auch bei sozialen Aktivitäten kein objektives, einheitliches und insbesondere zeitkonsistentes Verständnis von Nachhaltigkeit. Mit der Einführung einer sozialen Taxonomie wären zahlreiche Zielkonflikte vorprogrammiert gewesen. Es ist jedoch völlig legitim, solche Tätigkeiten unterschiedlich einzuschätzen und zu bewerten.

Philipp Eckhardt, Fachbereich Informationstechnologien, eckhardt(at)cep.eu