18.03.16

Nachgefragt: EU–Türkei

Zum EU-Türkei-Gipfel

1. Was ist von den Vorschlägen der Türkei zur Lösung der Flüchtlingsfrage zu halten?

  • Kern des Vorschlags: Rücknahme aller Personen, die versuchen, illegal von der Türkei nach Griechenland einzureisen. Im Gegenzug muss die EU für jeden Syrer, der von der Türkei zurückgenommen wird, einen anderen Syrer, der ein Recht auf Asyl hat, in die EU einreisen lassen (1:1 Regel).
  • Grundsätzlich: Weitreichendes Angebot, das Anreize für illegale Grenzübertritte minimieren und damit das Geschäft der Schlepper austrocknen soll.
  • Politisch: Fraglich ist, ob sich die EU-Mitgliedstaaten darauf einigen können, der Türkei syrische Flüchtlinge abzunehmen. Eine Zusage der EU wird wohl auch davon abhängen, ob die Mitgliedstaaten daran glauben, dass die 1:1 Regel tatsächlich zu einer Reduktion der illegalen Migration führt. Denn sollte die 1:1 Regel dazu führen, dass die illegale Migration deutlich zurück geht, müsste die EU im Ergebnis auch weniger Syrer aufnehmen.
  • Rechtlich: Fraglich ist, ob die 1:1 Regel rechtskonform ausgestaltet werden kann. Sowohl eine Zurückweisung von Flüchtlingen auf dem Meer, eine Massenrückführung aus Griechenland ohne Prüfung, ob im Einzelfall ein Asylrecht besteht, als auch die Durchführung von beschleunigten Registrierungsverfahren binnen weniger Tage stoßen auf rechtliche Bedenken hinsichtlich ihrer Vereinbarkeit mit dem europäischen Asylrecht und Grundrechten. Die EU-Charta der Grundrechte gewährt das Recht auf effektiven Rechtsschutz. Der EuGH hält im Fall beschleunigter Asyl-Verfahren eine Frist von 15 Tagen zur Einlegung eines Rechtsbehelfs für angemessen. Ob eine Rückführung illegaler Migranten nach weniger Tagen mit den europäischen Standards zu vereinbaren ist, ist daher fraglich.

2. Macht sich die EU damit erpressbar?

  • Der Erfolg der vorgeschlagenen Vereinbarung mit der Türkei hängt davon ab, ob es der Türkei und der EU gelingt, gemeinsam illegale Migration wirksam zu verhindern.
  • Der Türkei kommt bei der Verhinderung der illegalen Migration die Hauptverantwortung zu, da nur sie die Möglichkeit hat, schon auf dem türkischen Festland gegen Schlepper vorzugehen.
  • Die EU ist de facto von der Türkei abhängig. Die Türkei könnte dies ausnutzen, und illegale Migranten bewusst passieren lassen, um die EU unter Druck zu setzen.

3. Ist der Preis (6 Milliarden Euro) gerechtfertigt?

  • Schon auf dem vorletzten EU-Türkei-Gipfeltreffen Ende November 2015 erklärten die Staats- und Regierungschefs, die zugesagten 3 Milliarden Euro seien nur eine Anfangszahlung und müssten je nach Entwicklung der Umstände angepasst werden.
  • Die EU selbst hat somit schon damals anerkannt, dass sie der Türkei gegebenenfalls mehr Geld für die Versorgung der Flüchtlinge zur Verfügung stellen muss.

4. Welche Möglichkeiten hat die EU, auf der Einhaltung des Vereinbarten zu bestehen? Was passiert, wenn die Türkei nicht wie vereinbart Flüchtlinge zurücknimmt?

  • Die EU hat kaum Druckmittel gegenüber der Türkei:
  • Verzögerung des Beitrittsverfahrens dürfte kaum geeignet sein, auf die Türkei Druck auszuüben, da die Türkei derzeit wohl selbst wenig Interesse an einem Beitritt hat.
  • Auch die Reduktion von finanzieller oder technischer Hilfe zur Versorgung der Flüchtlinge dürfte kaum geeignet sein, die Türkei unter Druck zu setzen.
  • Die von der Türkei geforderten Visa-Erleichterungen könnten in Zukunft wieder zurück genommen werden. Insoweit kann der EU-Gesetzgeber gem. Art. 77 Abs. 2 lit. a AEUV autonom über die Visa-Politik entscheiden. Hiermit könnte die EU gegenüber der Türkei gegebenenfalls Druck machen.

5. Wann kann umgekehrt die Türkei mit der Umsetzung des Zugesagten (z.B. bei der Visumspflicht) rechnen?

  • Die Verhandlungen zwischen der EU und der Türkei über die Visa-Liberalisierung laufen schon seit 2013.
  • Die Anforderungen der EU an die Türkei sind in einer Roadmap vom 16. Dezember 2013 festgelegt.
  • Laut der Fortschrittberichte der KOM von Anfang März 2016 sind noch zahlreiche Anforderungen nicht erfüllt: Sicherheit von Reisepässen, Verbesserung der Grenzkontrollen und des Vorgehens gegen Schlepperbanden, strengere türkische Visa-Regeln für Drittstaatenangehörige, Fortschritte bzgl. Rechtsstaatlichkeit und Grundrechten.
  • Die Visa-Erleichterungen müssen im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren gem. Art. 77 Abs. 2 lit. a AEUV beschlossen werden.
  • Das ordentliche Gesetzgebungsverfahren dauert in der Regel mehrere Monate.
  • Zudem äußern Mitgliedstaaten (Rat) aber auch Abgeordnete (EP) Kritik an der baldigen Visa-Liberalisierung.
  • Wegen der Bestehenden Mängel in der Türkei, den politischen Vorbehalten und der normalen Dauer des Gesetzgebungsverfahrens sind Visa-Erleichterungen bereits ab Juni 2016 nur schwer vorstellbar.

6. Wie geht es denn jetzt bei den Beitrittsverhandlungen weiter?

  • Die Beitrittsverhandlungen laufen seit 2005.
  • Wegen Meinungsverschieden über Zypern bleiben einige Verhandlungskapitel vorläufig geschlossen.
  • Die von der Türkei verlangte Eröffnung weiterer Verhandlungskapitel liegt im Ermessen der EU und könnte grundsätzlich zügig beschlossen werden.
  • Die EU kann aber ihrerseits autonom Bedingungen für den vorläufigen Abschluss von Kapiteln festlegen. Einzelne Kapitel werden zudem immer nur vorläufig abgeschlossen und können bis zum Abschluss der gesamten Beitrittsverhandlungen jederzeit wieder eröffnet werden. Die EU verhandelt nach dem Grundsatz „Es ist nichts vereinbart, bis nicht alles vereinbart ist“.

7. Schaut Europa jetzt eigentlich weg bei der Einschränkung von Menschenrechten in der Türkei?

  • Im Rahmen der Beitrittsverhandlungen gibt es ein Verhandlungskapitel mit Anforderungen bzgl. Rechtsstaatlichkeit und Grundrechten.
  • Auch in der Roadmap zur Visaliberalisierung stellt die EU zahlreiche Forderungen gegenüber der Türkei hinsichtlich Rechtsstaatlichkeit und Grundrechten.
  • Der letzte Fortschrittsbericht der EU von Anfang März 2016 stellt klar, dass die Türkei in diesem Bereich noch viel zu tun hat.
  • Wahrscheinlich werden sich die Staats- und Regierungschefs beim Gipfel-Treffen am 17./18. März 2016 mit der Türkei mit kritischen Äußerungen zurückhalten. Auch im Abschlussdokument des letzten Gipfels vom 07. März steht bzgl. der aktuellen Ereignisse in der Türkei nur der Satz, dass die „Lage der Medien in der Türkei“ mit dem türkischen Ministerpräsidenten „erörtert“ worden sei.
  • Aus dem Europäischen Parlament, das bei der Änderung der Visa-Vorschriften mitwirken muss, wird man wohl kritische Stimmen zur Rechtsstaatlichkeit und den Grundrechten in der Türkei hören.
  • Wahrscheinlich wird die EU gegenüber der Türkei vor allem bei Treffen auf Arbeitsebene – d.h. außerhalb der öffentlichen Wahrnehmung – auf die Verbesserung der Rechtsstaatlichkeit und der Grundrechte drängen.

8. Will denn die Türkei tatsächlich noch in die EU?

  • Derzeit scheint die Türkei kein Interesse an einem baldigen Beitritt zu haben.
  • Aber: Die Türkei gerät durch den Konflikt in Syrien, die Schwierigkeiten mit den Kurden, die Spannungen mit Russland, die Terror-Anschläge der letzten Monate und deren Auswirkungen auf den Tourismus (Deutsche Urlauber als Opfer) zunehmend unter Druck.
  • Es ist möglich, dass die Türkei jedenfalls die Zusammenarbeit mit der EU verbessern will um sich dadurch die EU als „Verbündeten“ zu sichern.

9. Welche Chancen hat den die Türkei, in absehbarer Zeit aufgenommen zu werden?

  • Die EU-Kommission hat im Herbst 2015 klargestellt, dass keiner der derzeitigen Beitrittskandidaten in der Lage ist, bis zum Ende ihres Mandats 2019 beizutreten.
  • Zudem ist es angesichts der Konflikte im Nahen Osten kaum vorstellbar, dass sich die Mitgliedstaaten der EU in absehbarer Zeit eine EU-Außengrenze mit Iran, Irak und Syrien vorstellen können.

 

Harald Händel, Leiter Kommunikation, haendel(at)cep.eu