13.05.16

Lässt das Europäische Parlament den Deal mit der Türkei platzen?

Das Europäische Parlament könnte die geplante Visa-Liberalisierung für Monate blockieren und damit das Flüchtlingsabkommen zwischen EU und Türkei platzen lassen.

Der sogenannte EU-Türkei-Deal droht, zu platzen. Die Türkei hat in den letzten Wochen immer wieder angedeutet, dass sie sich nicht an das Abkommen gebunden fühle, falls die EU nicht – wie vereinbart – die Visa-Pflicht für türkische Staatsangehörige bis spätestens Ende Juni 2016 aufhebe. Nun will das Europäische Parlament die notwendigen Gesetzesänderungen zur Visa-Liberalisierung blockieren, bis die Türkei alle von der EU aufgestellten Voraussetzungen, insbesondere im Bereich der Grundrechte, erfüllt.

 

Wie diese Woche bekannt wurde, hat die Gruppe der Fraktionsvorsitzenden im Europäischen Parlament bereits am letzten Donnerstag (5. Mai) beschlossen, die Arbeit zur Änderung der Verordnung über die Visa-Befreiung auszusetzen. Am Tag zuvor hatte die EU-Kommission offiziell das Gesetzgebungsverfahren zur Aufhebung der Visa-Pflicht für die Türkei eingeleitet, zugleich aber betont, die Türkei habe noch immer 7 der 72 Voraussetzungen für die Visa-Liberalisierung nicht erfüllt. Insbesondere Grundrechte, wie die Meinungs- und Versammlungsfreiheit sowie das Recht auf ein faires Gerichtsverfahren, würden in der Praxis von Gerichten und Sicherheitskräften nicht hinreichend beachtet.

 

Die EU-Kommission scheint davon auszugehen, dass die Türkei einen besseren Schutz der Grundrechte bis zum geplanten Inkrafttreten der Visa-Befreiung im Juni 2016 sicherstellen wird. Diese Zuversicht überrascht, denn noch Anfang März 2016 hatte die EU-Kommission die ursprünglich von der Türkei geäußerte Absicht, alle 72 Kriterien bis Oktober 2016 zu erfüllen, als „ambitioniert“ bezeichnet.

 

Das Europäische Parlament könnte seine Einflussmöglichkeiten im Verfahren zur Visa-Liberalisierung nutzen, um Druck auf die Türkei auszuüben. Die Aufhebung der Visa-Pflicht muss von der EU im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren beschlossen werden (Art. 77 Abs. 2 AEUV). Das Europäische Parlament hat dabei die Möglichkeit, die Gesetzesänderung mit der Mehrheit seiner 751 Mitglieder abzulehnen (Art. 294 Abs. 7 AEUV). Der Beschluss der Fraktionsvorsitzenden vom 5. Mai zeigt, dass eine entsprechende Mehrheit besteht. Das Europäische Parlament könnte sich nun theoretisch bis zu vier Monate – also bis Anfang September 2016 – Zeit lassen, eine Entscheidung zu treffen (Art. 294 Abs. 14 AEUV).

 

Das cep bezweifelt, dass das Europäische Parlament, die Vereinbarung mit der Türkei wirklich platzen lassen will. Das Europäische Parlament besitzt in der aktuellen Situation aber eine Veto-Möglichkeit, mit der es die Aufhebung der Visa-Pflicht verhindern könnte. Die Türkei ihrerseits scheint das für sie innenpolitisch wichtige Vorhaben der Visa-Liberalisierung nicht leichtfertig aufs Spiel setzen zu wollen und deutet inzwischen an, nicht mehr auf die Einhaltung des Juni-Termins zu bestehen. Das Europäische Parlament lässt die politischen Muskeln spielen – anscheinend mit Wirkung.

 

Urs Pötzsch, Fachbereich EU-Verträge und EU-Institutionen, poetzsch(at)cep.eu