29-06-2016

Gespräch mit cep-Fachbereichsleiter Dr. Bert Van Roosebeke

Am 23. Juni haben die Briten gegen den Verbleib ihres Landes in der Europäischen Union gestimmt. Die konkreten Folgen sowohl für das Vereinigte Königreich als auch für die Mitgliedstaaten der EU sind schwer kalkulierbar.

Warum zieht Cameron den Moment der Austrittserklärung hin? Warum will er sich vor Oktober nicht festlegen?

Van Roosebeke: Das zögerliche Vorgehen hat möglicherweise zwei Ursachen. Zunächst hoffte Cameron vielleicht, die Entscheidung könnte rückgängig gemacht werden. Dann hat er aber im Londoner Parlament selbst deutlich gemacht, dass der Brexit unvermeidbar sei. Vermutlich ist der Grund jetzt, dass die Briten selbst ohne Plan sind und nicht wissen, welchen Weg sie gehen sollen. Sie benötigen schlicht Zeit, sich Gedanken zu machen. Vielleicht hoffen sie auch darauf, durch informelle Verhandlungen mit der EU in eine bessere Verhandlungsposition zu kommen. Allerdings haben die Mitgliedstaaten und auch Kommissionspräsident Juncker in den letzten Tagen klar geäußert, dass sie zu informellen Gesprächen nicht bereit sind.

 

Die Kommission hat sich laut eigener Aussage, auf ein Brexit-Szenario vorbereitet. Hat Großbritannien dies nicht getan?

Van Roosebeke: Das muss man leider so sehen. Es ist ja deutlich, dass es bei dem Referendum weniger um Fakten ging. Den Ausschlag haben Emotionen gegeben.

 

Sind Neuwahlen in Großbritannien wahrscheinlich?

Van Roosebeke: Man muss abwarten, was die Konservativen machen – und vor allem wie ihr neuer Regierungschef oder ihre neue Regierungschefin mit der eigenen Partei zu Recht kommt. Die Mehrheit der Abgeordneten, auch die der konservativen Partei – waren ja gegen den Brexit. Sollten sie und die Mehrheit der Parteimitglieder nicht bereit sein, den Ausstiegsprozess mitzutragen, wird es zu Neuwahlen kommen müssen, damit der neue Premierminister die notwendige Unterstützung für seine Politik erhält.

 

Wer würde bei Neuwahlen gewinnen?

Van Roosebeke: Es könnte durchaus sein, dass dann EU-Befürworter das Ergebnis dominieren – vor allem, wenn die Wahl als neues Referendum angesehen wird. Würden sie gewinnen, ist es durchaus denkbar, dass das Brexit-Referendum ignoriert wird und das Vereinigte Königreich in der EU bleibt. Allerdings nur, solange das Ausstiegsverfahren nach Art. 50 des EU-Vertrags bis dahin nicht aktiviert wurde.

 

Wenn Großbritannien doch nicht austritt, ist dann die „Zeit des Rosinenpickens“ vorbei, wie Angela Merkel im Bundetag mahnte?

Van Roosebeke: Sollten die Briten das Austrittsverfahren nach Art. 50 EUV nicht aktivieren, bleibt alles wie bisher – einschließlich Briten-Rabatt samt zahlreicher Opt-Outs. Wenn aber der Austritt übermittelt wurde, dann muss – so unsere Interpretation der Verträge – ein Austritt stattfinden. Anschließend könnten die Briten den Neueintritt in die EU beantragen. In den Gesprächen dazu besäße Großbritannien dann natürlich nicht mehr die Verhandlungsmacht, die das Land bisher hatte.

 

Was sollte die EU aus dem Geschehenen lernen?

Van Roosebeke: Juncker hat sofort nach Amtsantritt mit seiner Agenda deutlich gemacht, dass die Europäische Union der Zukunft bürgernäher und transparenter sein müsse. Dafür hat er zehn Prioritäten gesetzt und viel weniger reguliert als seine Vorgänger. Das ist der richtige Weg. Dennoch: Das eigentliche Problem ist, dass in den Mitgliedstaaten keine einheitliche Erwartung darüber besteht, was die EU sein soll. Dringend notwendig ist daher eine Debatte darüber, welche Aufgaben die EU in Zukunft übernehmen soll – und welche nicht.