04.09.14

Die Europäische Arbeitslosenversicherung

Auf europäischer Ebene wird darüber diskutiert, inwieweit eine gemeinsame europäische Arbeitslosenversicherung als automatischer Stabilisator in der Euro-Zone dienen kann. Automatische Stabilisatoren sind konjunkturstabilisierende Maßnahmen, „die ohne zusätzliche gesetzgeberische Maßnahmen von den öffentlichen Haushalten ausgehen.“[1]

Auch durch die Eurokrise hat die Diskussion um eine Europäische Arbeitslosenversicherung einen entscheidenden Schub erhalten, da andere automatischer Stabilisatoren wie ein konstanter öffentlicher Konsum oder konstante öffentliche Investitionen aufgrund der angespannten Haushaltslage in vielen Euro-Staaten nicht wirken konnten.

László Andor, EU-Kommissar für Beschäftigung, Soziales und Integration, hat im Juni 2014 einen Ausblick gegeben, wie er sich eine Europäische Arbeitslosenversicherung vorstellt[2]: Als Europäische Kernversicherung, die einen Teil der nationalen Arbeitslosenversicherungen ersetzt, und – falls von den Nationalstaaten gewünscht – von der nationalen Arbeitslosenversicherung ergänzt wird. Als Lohnersatzrate nennt Andor 40% des vorherigen (Referenz-) Einkommens, als Bezugsdauer schlägt er sechs Monate vor.

Die folgende Abbildung zeigt die von Andor skizzierte Europäische Arbeitslosenversicherung und eine ergänzende nationale Arbeitslosenversicherung. Die nationale Arbeitslosenversicherung ersetzt dabei für die ersten sechs Monate der Arbeitslosigkeit 60% des vorherigen Einkommens. Für die Monate sieben bis zwölf werden noch 50% des letzten Einkommens ersetzt.

Um die Ein- und Auszahlungen zu koordinieren, sollen die nationalen Behörden oder Agenturen die Beiträge zur Europäischen Arbeitslosenversicherung an einen Europäischen-Arbeitslosenversicherungsfonds überweisen. Im Gegenzug erhalten sie von dort die Leistungen, die sie im Rahmen der Europäischen Arbeitslosenversicherung in diesem Monat auszahlen müssen. Laut Andor könne das System jedoch auch so ausgestaltet werden, dass nur die Nettoströme zwischen dem Europäischen Arbeitslosenversicherungsfonds und den nationalen Arbeitslosenversicherungen fließen.

Es ist zu vermuten, dass die Kommission keine neue europäische Agentur schaffen möchte, die die Ansprüche und Höhe der Lohnersatzleistung jedes Arbeitslosen zu prüfen hätte. Denn in diesem Fall müssten die teilnehmenden Staaten umfangreiche Daten an diese neu zu schaffende europäische Institution übermitteln. Der damit verbundende bürokratische Aufwand sowie Datenschutzbedenken wären groß. Wahrscheinlicher ist ein nationales Kontrollverfahren, in dem die nationalen Fallbearbeiter zwei Prüfungen und Berechnungen durchführen: Im ersten Schritt wird – wie bisher – geprüft, ob ein Versicherter Leistungen aus der nationalen Versicherung erhält. Anschließend wird im zweiten Schritt festgestellt, ob der nationalen Versicherung ein Teil der Zahlungen an den Arbeitslosen von der Europäischen Arbeitslosenversicherung erstattet wird. Die zweite Prüfung hätte, wenn die Europäische Arbeitslosenversicherung die Grenzwerte der nationalen Arbeitslosenversicherung nicht überschreitet, auf die Versicherten keine Auswirkung.

Zudem müsste die nationale Arbeitslosenversicherung die Beiträge berechnen, die sie an den Europäischen Arbeitslosenversicherungsfonds leisten muss. Diese werden mit den Erstattungen saldiert, so dass die Nationale Versicherung nur den Nettobetrag an den Europäischen Arbeitslosenversicherungsfonds überweist bzw. eine Erstattung von diesem erhält.

Der von der Kommission verfolgte Ansatz hat den Vorteil, dass nur wenige Parameter der nationalen Arbeitslosenversicherungen EU-weit harmonisiert werden müssten. So könnten Bezugsdauer und Lohnersatzrate der Europäischen Arbeitslosenversicherung durchaus von der nationalen Arbeitslosenversicherung abweichen. Beide dürften die nationalen Grenzwerte jedoch nicht überschreiten. Dies ist erfüllt, wenn bei der Ausgestaltung der Europäischen Arbeitslosenversicherung darauf geachtet wird, dass für alle teilnehmenden Staaten folgender Grundsatz immer erfüllt ist: Wer kein Anrecht auf nationales Arbeitslosengeld hat, hat auch kein Anrecht auf Leistungen aus der Europäischen Arbeitslosenversicherung. Wäre dieser Grundsatz der Nachrangigkeit verletzt, würde die Europäische Arbeitslosenversicherung die Leistungen der nationalen Arbeitslosenversicherung nicht ergänzen, sondern erweitern.

Die von László Andor vorgeschlagene Arbeitslosenversicherung weist allerdings zahlreiche Probleme auf. Zum einen besteht die Gefahr einer dauerhaften Umverteilung. Ob ein Land über einen längeren Zeitraum von der europäischen Arbeitslosenversicherung profitiert, hängt dabei nicht in erster Linie von der Höhe der Arbeitslosigkeit in einem Mitgliedstaat ab, sondern vielmehr von der durchschnittlichen Verweildauer der Arbeitslosen. Mitgliedstaaten mit vielen Kurzzeitarbeitslosen, d.h. Arbeitslosen, die max. sechs Monate Versicherungsleistungen beziehen und anschließend wieder einer Beschäftigung nachgehen, profitieren von diesem Modell sehr viel stärker als Mitgliedstaaten mit vielen Langzeitarbeitslosen. In einer so ausgestalteten Europäischen Arbeitslosenversicherung könnte es also zu einer Umverteilung von Ländern mit einer hohen Arbeitslosigkeit (und vielen Langzeitarbeitslosen) zu Ländern mit einer niedrigen Arbeitslosenquote (und vielen Kurzzeitarbeitslosen) kommen. Es ist fraglich, ob eine so ausgestaltete Arbeitslosenversicherung in einem Mitgliedsstaat mit hoher Arbeitslosigkeit und hoher Verweildauer nicht als unsozial wahrgenommen würde. 

Hinzu kommt, dass die durchschnittliche Verweildauer stark von den Regelungen der nationalen Arbeitslosenversicherung – wie Sanktionen und Bezugsdauer – und der Höhe einer möglichen anschließenden Sozialhilfe abhängt. Diese Unterschiede wären nicht konjunkturbedingt, würden aber die Zahlungsströme in und aus dem Europäischen Arbeitslosenversicherungsfonds beeinflussen. 

Eine weitere Schwierigkeit könnte bei einer national organisierten Prüfung über Erstattungen der Europäischen Arbeitslosenversicherung auftreten. Mitgliedstaaten könnten versucht sein, die Anspruchsvoraussetzungen möglichst häufig zu bejahen, da ihnen so ein großer Teil der Leistungen vom Europäischen Arbeitslosenversicherungsfonds ersetzt würde. Auch durch Prüfung auf europäischer Ebene würde dieses Problem nicht vollständig gelöst, da die erforderlichen Daten von den nationalen Ämtern übermittelt würden. Auch hier gäbe es entsprechenden Missbrauchsspielraum. Hinzu kämen der bereits erwähnte bürokratische Aufwand und Datenschutzprobleme.

Der Grundsatz der Nachrangigkeit hat den Vorteil, dass kaum Harmonisierung notwendig ist. Allerdings können so nur relativ geringe Leistungen von einer Europäischen Arbeitslosenversicherung übernommen werden. Dies reduziert jedoch die erzielte Wirkung als automatischer Stabilisator. 

Alles in allem zeigt sich, dass eine Europäische Arbeitslosenversicherung mit vielen Nachteilen behaftet ist. Dem stehen nur geringe Vorteile gegenüber. 

Autor: Dr. Matthias Kullas, Leiter des Fachbereichs Wirtschaftspolitik des Centrums für Europäische Politik.

 

[1] Sachverständigenrat (2008): Die Finanzkrise meistern – Wachstumskräfte stärken, S. 246.

[2] Hierbei handelt es sich um eine Rede auf der „Conference on Economic shock absorbers for the euro zone”, die von der Bertelsmann-Stiftung organisiert wurde.